"Und doch sieht alles immer noch alles irgendwie gleich aus"
hört er den Jungen schwafeln.
Er versucht nicht zuzuhören, wie der
Kleine Hosenscheißer den Neulingen Geschichten
über die gute alte Zeit erzählt.
Solche Dinge machen ihn immer aggressiv und obwohl
Aggressivität im Kampf natürlich Sinn macht, ist
sie hier fehl am Platz.
"Früher gab es hier einen Park in
dem man Abends die Eichhörnchen füttern konnte.
Und wenn die Sonne unterging dann war da so
ein Licht, richtig romantisch."
Er hält es nicht mehr lange aus. Der Hosenscheißer reden
mit den Neulingen, als ob sie noch nie etwas von den Dingen
gehört hätten, von denen er erzählt. Dabei sind sie gerade
mal höchstens drei Jahre jünger als er selbst.
Und die Neulinge tun doch auch wirklich so, als ob
sie keine Ahnung von dem haben, was er da erzählt.
Mit großen Augen und offenen Mündern sitzen sie
um den Hosenscheißer und hängen an seinen Lippen.
Jedes einzelne Wort saugen sie in sich ein, wie
Verdurstende das Wasser.
Wahrscheinlich brauchen sie es, dass ihnen jemand
von früher erzählt, um sich zu erinnern. Um sich an
die schönen Tage zu erinnern, an denen es noch
Essen und Wasser im Überfluss gab.
An denen man nicht mit Angst ins Bett ging und
man nicht mit Angst aufwachte.
"Essen, Essen so viel wie ihr essen könnt. All you can eat.
Sagt ja schon der Name. Da vorne war ein Chinese, der hat die besten..."
Er schaut auf seinen Nebenmann, einen Hühnen
namens Fridolin. Unpassender Name für so einen großen Menschen.
Er schüttelt nur den Kopf und sieht dann wieder auf den Boden.
Das Gewehr in seinen Pranken wirkt wie ein kleines, unnützes
Spielzeug.
"Aber ich sage euch, es wird wieder so werden..."
Jetzt kommt das Mut machen, denkt er sich.
"... vernichtet haben, werden wir die Stadt wieder aufbauen. Ich ..."
... werde diesen Tag nicht mehr erleben. Ihr vielleicht auch nicht.
Aber eure Kinder.
Er kennt die Ansprache schon Auswendig.
Jede Nacht erzählt der Hosenscheißer den selben Mist.
Und jede Nacht sitzen die Neulinge da und glotzen ihn
an, wie einen Propheten. Dieses arogante Dreckschwein.
Schließlich steht er auf und schüttelt sich durch.
Der Erzähler und sein Publikum nehmen nicht einmal
davon Notiz.
"... deswegen müsst ihr so viel Erfahrung sammeln wie möglich. Der Kampf ist erst dann gewonnen wenn..."
Er bückt sich nochmal um sein Gewehr aufzuheben.
Ein geübter Blick, ein kurzer Ruck am Repetierbolzen
und er weiß, dass sie geladen ist.
Mit einem Schuss könnte er diese Labertasche zum Schweigen
bringen, denkt er. Er weiß, dass solche Gedanken gefährlich sind,
darum zündet er sich eine Zigarette an und geht etwas außerhalb des
Lagers. Dort steht der erste Wachposten.
Ein Farbiger namens Flynn. Er stellt sich zu ihm und nickt ihm
kurz zur Begrüßung zu. Flynn nickt kurz zurück und sieht dann
wieder durch den Restlichtverstärker in die Nacht hinaus.
"Schön ruhig heute?" hört er sich sagen.
"Bis jetzt schon. Aber gestern, gab es Bewegungen im Norden.
Wir befürchten, dass sie uns bald gefunden haben."
Dann wieder ab in den Untergrund, schießt es
ihm durch den Kopf.
Flynn schießt inzwischen etwas anders durch den Kopf.
Die Kugel durchschlägt seinen Schädel, als wäre er aus
Papier. Er wird zurückgeworfen und fällt auf einen Eisenträger,
der aus dem Boden ragt. Der Träger
druchschlägt seinen Brustkorb sofort, mit solcher Wucht
wird Flynn zurückgeworfen. Sein Brustkorb wird
nach außen gedrückt und seine Lunge bleibt auf
dem Eisenträger kleben.
Als ob das jetzt noch was machen würde,
denkt er sich.
So schnell wie jetzt, ist er überhaupt noch nie
in Deckung geganen, denkt er sich.
Er spürt regelrecht, wie die Projektile die Luft dort
zerreißen, wo er noch vor einem Bruchteil einer Sekunde gestanden
war.
Die Schüse waren weder zu hören, noch zu sehen.
Das Artilleriefeuer jedoch, war gut zu sehen. Die gleißend
hellen Punkte leuchteten wie Sterne in der Nacht. Trotzdem
sieht er sie erst, als sie bereits die Spitze ihrer balistischen
Bahn erreicht haben und mit einer gewaltigen Geschwindigkeit
näher kommen.
Er kann nicht rufen, die Kehle ist ihm wie zugeschnürt.
Der Hosenscheißer hat noch nicht aufgehört zu reden.
Er hört nicht zu reden auf, als das Pfeifen der Geschosse
immer lauter wird. Er hört nicht einmal auf, als
die glühenden Sprengsätze bereits so nahe sind, dass
die Ruinen aussehen, als hätten sie Feuer gefangen.
Vermutlich hat er noch weiter von der guten alten Zeit
erzählt als die Geschosse bereits explodiert sind und
ihn und seine Zuhörer in tausend kleine Fleischfetzen
zerreißen.
Schöne, neue Welt, denkt er zu sich, als er selbst
von einem Geschoss in tausend kleine Fleischfetzen
zerrissen wird.
[Schöne, neue Welt. Patrick Brandstätter 2008]
[Aus der Reihe: New Enemies]
Freitag, 25. April 2008
Abonnieren
Posts (Atom)